Brief an Jens Spahn: „Warum werden pflegende Angehörige so allein gelassen?!”
Sehr geehrter Jens Spahn,
ich gehöre zu der Gruppe von Menschen, die vielleicht nicht an erster Stelle stehen, aber spätestens an zweiter, wenn es um schwere und chronische Erkrankungen geht: Ich bin eine pflegende Angehörige. Meine Mutter hat seit fast 20 Jahren eine Autoimmun-Erkrankung, Pemphigus Vulgaris. Das wird den meisten nichts sagen, aber sie muss seitdem einen Haufen schwerer Medikamente nehmen, die Fluch und Segen zur selben Zeit sind. Als ich noch klein war, habe ich Abends immer im Bett gelegen und gebetet, dass sie gesund wird. Jetzt hoffen wir nur noch, dass ihr Zustand sich nicht verschlimmert. Sie nimmt täglich zehn verschiedene Medikamente, kann kaum laufen und braucht eigentlich mehr als nur Pflegegrad 4. Viele gesunde Menschen hätten an dieser Stelle vermutlich bereits aufgehört zu lesen, aber ich bin mir sicher, dass jeder, der selbst erkrankt ist oder jemanden aus der Familie pflegt, weiterliest. Zu welchen Lesern gehören Sie, Herr Spahn?
Im November schrieb schon die Krankenschwester Johanna Uhlig in einem Brief an sie:
„Während meiner Ausbildung habe ich auch Einblicke in die Altenpflege bekommen: Ältere Herrschaften melden sich zum Toilettengang, aber aus akuter Personalnot werden sie gebeten, es doch „einfach laufen zu lassen“, schließlich hätten sie ja eine Einlage. Patienten äußern Schmerzen, die Pflegekraft jedoch ist im Nachtdienst allein. Sie schafft es durch das hohe Arbeitsaufkommen nicht, zügig ein Schmerzmittel zu verabreichen. Wer kann da noch ohne Angst und mit Vertrauen als Patient in ein Krankenhaus oder Pflegeheim gehen?“.
Niemand im Krankenhaus will die Verantwortung für Nebenwirkung übernehmen
Dies kann ich bestätigen, Herr Spahn. Seitdem wir häufig die Erfahrung gemacht haben, dass unsere Mutter im Krankenhaus nicht die Pflege bekommt, die sie braucht, um wieder gesund zu werden, sitzen wir von früh bis spät neben ihrem Bett. Es ist sogar viel schlimmer: Wenn meine Schwester, die glücklicherweise über das nötige Know-How verfügt, nicht jedes Mal bei der Medikamenten-Ausgaben im Krankenhaus genau aufpassen würde, wäre sicherlich schon viel Schlimmeres passiert. Bei schwer kranken Menschen nämlich, muss man alles berücksichtigen: Verstärkt das Medikament den Zuckerspiegel? Hat es Nebenwirkungen mit dem Blutdruck-Medikament? Kann es die Schlafapnoe verschlimmern, was Atemnot zur Folge hat? Niemand im Krankenhaus will die Verantwortung für Nebenwirkung übernehmen, doch wer ist denn in diesem System der Gesundheits-Politik zwischen Krankenkassen, Pharmaindustrie und Pflege verantwortlich?
In den letzten Tagen im Krankenhaus war ich wieder mal erstaunt, wie unterschiedlich jede Pflegekraft handelt. Die eine nimmt sich mehr Zeit, die andere gar keine. Die eine Schwester ist extrem einfordernd und unfreundlich, der andere Pfleger liebevoll und aufmerksam. Liegt das an den schlechten Arbeitsbedingungen? Fehlt es an Kompetenz oder an Herz?
Fest steht: Je mehr Hilfe man braucht, umso weniger bekommt man sie prozentual im Vergleich zu gesünderen und autonomeren Patient*innen. Die 90-jährige Bettnachbarin meiner Mutter bekam ihr Abendessen pünktlich um 17:30h, aber erst um 20 Uhr hat es eine Schwester es geschafft, sie zu füttern. In allen Berufsbereichen gibt es Supervisionen und eine Art Qualitätsmanagement, warum denn nicht auch bei Pflegeberufen? Herr Spahn, wie wäre es mal, wenn man noch mal den Fokus auch woanders legt? Sie sagten in einem Interview:
„Mein Ziel ist es, den Familien zu helfen. Manche pflegende Angehörige suchen vergeblich Hilfe. Darum sind wir mit den Ländern im Gespräch, wie Hilfsbedürftige den Entlastungsbetrag von 125 Euro einfacher nutzen können. Und ab dem 1. Mai lassen wir auch Betreuungsdienste als Leistungserbringer zu. Die pflegen nicht, sondern helfen im Haushalt oder gehen mit dem Pflegebedürftigen spazieren.“
Wissen Sie wie das für mich klingt? Nach heißer Luft mit Honig. Ich kann Ihnen sagen, dass wir als Angehörige immer noch vergeblich nach Hilfe suchen, denn was hier nicht erwähnt wird ist, dass diese 125 Euro keinem pflegenden Angehörigen zusteht. Das bekommt nur ein Pflegedienst, was umgerechnet drei bis fünf Stunden im Monat sind. Was soll das denn einem bringen? Wie soll da ein Mensch Lebensfreude, trotz schwerer Umstände, zurückgewinnen, um seinen Zustand zu verbessern? Und selbst, wenn das Verbessern vielleicht zu persönlich ist, dann wenigstens seinen Zustand nicht zu verschlechtern, damit man nicht noch abhängiger von diesem Gesundheitssystem ist.
Wir wollen alle alt werden, sind aber nicht bereit uns um das Altwerden zu kümmern.
Und apropos Abhängigkeiten: Es gibt sehr viele Angehörige, die nicht nur ihr eigenes Leben auf die Reihe kriegen müssen, sondern auch noch konfrontiert werden mit der zusätzlichen Belastung der Pflege, physisch und aber auch psychisch. Ich kenne viele, die bereit wären weniger in ihrem Job zu arbeiten, um besser pflegen zu können, aber es leider nicht machen können, weil das Geld nicht reicht. Krank sein in Deutschland ist nämlich sehr teuer. Wieso gibt es hierfür keine bessere Lösungen?
Herr Spahn, unsere Gesellschaft wird immer älter. Wenn wir jetzt nicht was ändern, wird es eine grausame zur Schaustellung unserer Inkompetenzen. Wir wollen alle alt werden, sind aber nicht bereit uns um das Altwerden zu kümmern. Ich fordere mehr Aufmerksamkeit für die Angehörigen, für mehr Raum und Zuwendung der besonderen Umstände, für mehr Nächstenliebe bei den Bedürftigen.