Geschätzte 85 Prozent aller Fotos sollen inzwischen mit einem Smartphone aufgenommen werden – das macht pro Jahr mehr als eine Billion Bilder. Gefühlt macht jeder von uns pro Woche eine ähnlich große Anzahl von Bildern. Von so wichtigen Dingen wie unserem Mittagessen. Oder von uns. Beim Mittagessen. Oder weil der Hund / die Katze / der Hamster oder das Haustier der Wahl gerade was total Lustiges gemacht hat.
Ist das schon Kunst? Rhetorische Frage, ist es in wahrscheinlich sogar deutlich über 85 Prozent aller Fälle sicher nicht. Es sind Schnappschüsse, Alltagseindrücke, Szenen aus unserem Leben. Kann trotzdem schön sein, ist deswegen aber nicht unbedingt künstlerisch wertvoll. Was 800 Millionen Instagram-Nutzer nicht davon abhält, Monat für Monat ihre Impressionen mit der Welt zu teilen.
Was immer noch schön sein kann und wenn es nur schön repetitiv ist. Obwohl wir wohlwollender auch von einem Hang zu bestimmten Motiven und Topoi sprechen könnten. Letzteres ist Griechisch für „Eure-Instagram-Posts-sehen-alle-gleich-aus“ oder zumindest so ähnlich. Keine Sorge, dafür müsst ihr euch nicht schämen – außer vielleicht für den offenkundigen Mangel an Kreativität, der vor allem deswegen so dramatisch ist, weil euer Smartphone euch mittlerweile so viele Möglichkeiten gibt, den Künstler in euch zu entdecken.
Smartphone Fotos: Grenzen überschreiten
Angefangen damit, dass die Smartphone-Kameras technisch viele herkömmliche Kameras überholt haben: Sensorauflösungen, ISO-Empfindlichkeiten, 4k, Dual-Kameras mit zwei Festbrennweiten, Künstliche Intelligenz – interessieren dich möglicherweise rein gar nicht, machen dein Handy aber zum perfekten Werkzeug für spektakuläre Fotografie. Und sollten die technischen Voraussetzungen immer noch nicht reichen, gibt es für alles eine App. Fotografie und Bildbearbeitung in einem Gerät. Es gibt Künstler, die deutlich mehr Ausrüstung brauchen, um ihre Werke zu schaffen.
Was uns wieder zurückbringt zur ursprünglichen Frage. Technik allein macht nämlich kein kunstvolles Foto, nicht mit der hochwertigsten Kamera und genauso wenig mit deinem Smartphone. Wusste auch Andreas Feininger schon. Weil ein technisch fehlerhaftes Bild auf der Gefühlsebene am Ende doch mehr bewirken kann als jede noch technisch perfekte Aufnahme.
Gute Chancen also, dass das leicht verwackelte Foto vom Sonnenuntergang eures letzten Urlaubs immer noch was fürs Herz ist. Oder wenigstens das schlummernde Potenzial zum Kunstwerk hat, mit der richtigen Nachbearbeitung – und dabei dürft ihr gerne kreativer sein, als mal wieder euren Lieblingsfilter über das Bild zu knallen. Solltet ihr wirklich, #instarepeat! Genau das macht schließlich den Unterschied zwischen schickem Schnappschuss und fesselnder Fotokunst aus: Sich mit der Fotografie zu beschäftigen, mit dem Motiv, dem Licht und der möglichen künstlerischen Verarbeitung.
Das kann eben auch bedeuten, sich mit Instagram zu befassen, denn – es wäre unfair, was Anderes zu behaupten – der (künstlerische) Einfluss der Plattform ist gewaltig. Vor allem ist er wechselseitig, denn vielleicht nirgendwo sonst ist deutlicher zu beobachten, wie Fotokunst und Alltagsfotografie sich gegenseitig inspirieren und gleich auch die üblichen Grenzen zwischen privat und öffentlich langsam auflösen. Alles im Alltag taugt zum Fotomotiv, das öffentlich zugänglich gemacht werden kann. Aber mal ehrlich – ist das jetzt schon Kunst?
Smart as Photography
Die ernüchternde Antwort dürfte lauten: Nein, immer noch nicht. Die Nähe zur Kunst ist allerdings leichter spürbar. Weil selbst einen der obligatorischen Filter auszusuchen im Grunde nichts anderes ist als die Suche nach einer ästhetischen Lösung. Dabei hat sogar das Imperfekte, das Fehlerhafte seine ganz eigene Ästhetik. Das macht ja den Reiz von Filtern aus, die unsere Bilder in altmodisches Sepia tauchen und sie am Ende aussehen lassen, als hätte sie der Uropa aufgenommen – und zwar analog, nicht mit dem Smartphone!
Was ihr vielleicht instinktiv beim Fotografieren macht, versuchen Fotokünstler wiederum ganz bewusst zu erreichen und schaffen dadurch Fotokunstwerke, die im Gegenzug euch wieder zu Neuem inspirieren. Fotokunst und Smartphone-Fotografie berühren sich deshalb an vielen Stellen. Die Ergebnisse? Klarer Fall von „In Your Face“, weswegen im vergangenen Jahr eine Ausstellung in Hannover auch genau diesen Titel trug. Weil die ausgestellten Werke durch die Bank beweisen, dass es selbst in einer Zeit, in der jeder mit seinem Smartphone fotografieren und die Bilder anschließend bearbeiten kann, immer noch unerwartete Schöpfungen geben kann.
Zugegeben, zwischen den Billionen Instagram-Kopien der vermeintlich angesagtesten Motive scheint es keine sonderlich erwähnenswerte Leistung zu sein, mal etwas Kreativeres auf die Beine zu stellen. Andererseits muss das Ergebnis aber für genug Aufsehen sorgen, um nicht in der digitalen Bilderflut unterzugehen. Immerhin, möglich ist es. Beweist nicht nur die „In Your Face“-Ausstellung, denn die ist kein Einzelfall mehr.
Smartphone-Fotokunst wird mittlerweile an vielen Stellen gewürdigt, zum Beispiel bei den „Mobile Photography Awards“, die schon seit acht Jahren vergeben werden. Und die Gewinner stechen zwischen dem üblichen digitalen Einheitsbrei ganz sicher hervor, denn mit den üblichen Selfies haben die Gewinnerbeiträge in der Kategorie Selbstporträts (von 2017, die Beiträge vom letzten Jahr sind noch nicht ausgewertet) wenig bis gar nichts zu tun. Die einzige Gemeinsamkeit, die Paola Ismenes Gewinnerfoto mit herkömmlichen Badezimmerspiegel-Selfies hat ist der Badezimmerspiegel. Wenn ihr euch also bislang nicht vorstellen konntet, dass so ein Motiv auch ohne Standardposen auskommen und trotzdem interessant (im Sinne von „wirklich interessant“!) sein kann, hier der Beweis:
Mit Huawei hat sogar ein Smartphone-Hersteller seinen eigenen Wettbewerb für internationale Smartphone-Fotokunst. Die NEXT-IMAGE Awards werden in sechs Kategorien verliehen (unter anderem „Good Night“, „Faces“ und „Story Board“) und, wir legen uns fest, die Ergebnisse können sich allesamt sehen lassen. Zumindest lässt sich anhand der Gewinnerfotos von 2018 kaum ein anderes Urteil fällen, allerdings stellen die wiederum einen vergleichsweise kleinen Ausschnitt aus den gesamten Einsendungen dar. Reicht trotzdem aus, um zu beeindrucken.
„Kunst“ kommt von „Können“
Tatsächlich könntest du das auch. Nicht, weil Kunst von Können kommt (glauben die Leute das wirklich?), denn das kommt sie nicht. Was nichts daran ändert, dass du selbstverständlich schon was können musst, um nicht am Ende wieder in einer Instagram-Bilderlawine unterzugehen. Nur als Hinweis nebenbei: Es ist in dieser Hinsicht nicht zwingend hilfreicher, sich auf einer anderen Plattform zu versuchen, denn da sieht es ähnlich aus. Wenn es an einem keinen Mangel gibt im digitalen Zeitalter, dann nämlich an Smartphone-Bildern.
Das dürften unterm Strich also mehr als genug Gründe sein, um deinen nächsten Fotografien etwas mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Das ist zum Beispiel schon das große Geheimnis hinter der Street Photography. Die ist für sich genommen aber noch nicht unbedingt Kunst. Fotos, die einfach auf der Straße gemacht werden – im öffentlichen Raum, um das Ganze so allgemein wie möglich zu halten –, dafür sind Smartphones schließlich wie gemacht.
Street Photography ist allerdings kein Sammelbegriff für Schnappschüsse, die du irgendwo unterwegs aufgenommen hast. Genauso wenig braucht es unbedingt eine Straße, denn es geht ja um den öffentlichen Raum in seiner Gesamtheit. Im schlimmsten Fall ist „Street Photography“ ein irreführendes Etikett, eine leere Worthülse, der nächste Hashtag, mit dem jeder seine Fotos zur Kunst erheben will.
So einfach könnte es sein, aber das wird der Kunstform Straßenfotografie kaum gerecht. Was also musst du tun, was kannst du tun? Du kannst vor allem mit offenen Augen durch die Welt gehen, ein Gespür für denen einen Moment entwickeln, in dem der Alltag plötzlich unerwartet, außergewöhnlich und überraschend erscheint. Zugegeben, in anderen Bereichen der (Smartphone-)Fotografie ist das Momenthafte weniger wichtig, dafür die Inszenierung – und nein, damit ist nicht die nächste Selfe-Orgie gemeint!
Was Street Photography und jede andere Form des Fotografierens aber auf jeden Fall gemeinsam haben, ist trotzdem immer der wache Blick des Menschen hinter der Kamera. Den kannst du lernen, mit jeder Erfahrung weiter schulen und so die Motive und Blickwinkel finden, die wirklich aus der Masse hervorstechen, die aus deinen Bildern Kunst machen. Für alles andere, weißt schon – gibt es schließlich eine App.